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Die totale Aufmerksamkeit: Wenn der Algorithmus die Wahrheit ersetzt
Social Media wollte mal die Welt zusammenbringen. Mittlerweile ist es eine Mischung aus Marketinginstrument und Clickbait-Wahnsinn. LinkedIn ist das perfekte Beispiel dafür.

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LinkedIn war einmal ein Ort für Menschen, die etwas zu sagen hatten – Fachleute, Unternehmerinnen, Journalistinnen, Wissenschaftler. Heute erinnert das Netzwerk an eine Messe der Eitelkeiten. Zwischen „10 Tipps für mehr Sichtbarkeit“ und „Conscious Leadership in fünf Schritten“ dominiert das Rauschen der Selbstvermarktung. Wer nach Inhalt sucht, findet Haltungssimulation. Wer nach Diskussion sucht, findet Selbstdarstellung. Und wer nach Orientierung sucht, findet Algorithmen, die vor allem eines belohnen: Lärm.
Damit steht LinkedIn stellvertretend für eine Entwicklung, die längst das gesamte digitale Ökosystem durchzieht. Social Media hat die Versprechen seiner Anfangsjahre – Austausch, Vernetzung, Zugang zu Wissen – hinter sich gelassen. Übrig geblieben ist eine Maschine zur Erzeugung von Aufmerksamkeit, Empörung und Identität. Das Produkt sind nicht mehr Inhalte, sondern Reaktionen.
Die Plattformen funktionieren nach einem Prinzip, das einst die Boulevardpresse perfektionierte: Zuspitzung, Emotion, Wiederholung. Nur sind die Schlagzeilen heute personalisiert, endlos, algorithmisch verstärkt. Wo früher Journalisten entschieden, was relevant ist, filtern heute Algorithmen, was profitabel ist. Die Empörung wird zum Geschäftsmodell, der Hass zum Treibstoff. Das System belohnt Extreme – und bestraft Ambivalenz.
Gerade LinkedIn zeigt, wie tief dieses Prinzip in die digitale Berufswelt eingesickert ist. Aus einem Netzwerk für Fachgespräche ist eine Bühne für Selbstdarsteller geworden. Da posten Menschen ihre angeblichen Misserfolge, um im nächsten Satz ihre Resilienz zu feiern. Sie teilen „authentische“ Tränen, inszenieren Demut und schreiben dann doch wieder über sich selbst. Die Grenze zwischen Persönlichkeit und Performance ist längst verwischt. Es ist nicht mehr wichtig, was jemand denkt – sondern wie oft er dafür geliked wird.
Das Phänomen ist nicht neu. Facebook wurde zum Marktplatz der Meinung, Twitter (heute X) zur Arena des Zorns, Instagram zur Dauerwerbesendung. Doch was LinkedIn besonders macht, ist seine bürgerliche Tarnung. Hier tobt der gleiche Kampf um Aufmerksamkeit – nur mit Krawatte. Der „Corporate Influencer“ ist das neue Role Model einer Generation, die gelernt hat, dass Sichtbarkeit wichtiger ist als Substanz. Wer sich dem System entzieht, verliert Reichweite – und damit Relevanz.
Die Folgen sind spürbar: Der Diskurs verflacht, der Ton verhärtet. Zwischen den Lagern gibt es kaum noch Verständigung. Statt Argumenten zählen Reflexe. Wer abweicht, wird aussortiert. Die sozialen Medien, einst gedacht als Orte des Dialogs, sind zu Systemen der Polarisierung geworden. Die Mitte – jener Raum des Nachdenkens, Zweifelns, Abwägens – ist in den Timelines kaum mehr sichtbar.
Hinzu kommt die nächste Stufe: künstlich erzeugte Emotionen. KI-generierte Videos und Deepfake-Bilder produzieren Empörung, die sich echt anfühlt, aber synthetisch ist. Logos im Bild suggerieren Seriosität, obwohl sie nichts anderes sind als Markenzeichen digitaler Manipulation. Das Ergebnis: eine Öffentlichkeit, die auf Gefühle reagiert, nicht auf Fakten. Der Wahrheitsbegriff wird zu einem Stimmungswert.
Diese Dynamik bleibt nicht folgenlos. Sie prägt längst die klassischen Medien, die sich von den digitalen Erregungszyklen treiben lassen. Themen, die auf Social Media Reichweite bringen, landen in Redaktionskonferenzen. Kontroverse Überschriften bringen Klicks – und Klicks bringen Einnahmen. So reproduziert sich das System: Empörung wird Ökonomie.
Was dabei verloren geht, ist das Vertrauen. Menschen ziehen sich zurück, blocken, muten, löschen Accounts. Viele sagen: Es ist zu laut geworden. Zu viel Meinung, zu wenig Haltung. Zu viel Performance, zu wenig Gespräch. Die Erschöpfung ist real – und sie ist nicht nur individuell, sondern strukturell. Das permanente Ausgesetztsein im digitalen Raum erzeugt Stress, der kaum noch als solcher wahrgenommen wird. Das Internet, einst ein Ort der Freiheit, wirkt heute wie eine Dauerprüfung: Bin ich sichtbar? Reagiere ich richtig? Bin ich noch relevant?
Vielleicht liegt genau hier der Punkt, an dem man innehalten sollte. Vielleicht ist es Zeit, wieder Räume zu schaffen, die ohne Algorithmus auskommen. Orte, an denen Debatten wieder Dialoge sind – nicht Inszenierungen. Wo Menschen nicht als Marken auftreten müssen, sondern als denkende Wesen. Wo man zuhört, statt bewertet zu werden.
Das bedeutet nicht, sich aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Aber es heißt, sie wieder zu gestalten – bewusst, selektiv, mit Maß. Social Media muss nicht verschwinden, um besser zu werden. Aber es braucht eine Rückkehr zu dem, was es einmal war: ein Werkzeug. Kein Spiegelkabinett, kein Resonanzverstärker, kein Selbstzweck.
Denn so lange der Lärm regiert, wird die Stille zum Luxusgut. Und vielleicht beginnt die Heilung der digitalen Öffentlichkeit genau dort – im Moment, in dem wir einfach mal wieder abschalten.